Über den Dächern der Schweiz: Ein Gratwanderabenteuer in Graubünden

Wo könnte man eine größere Vielfalt an Gratrouten finden, als im Schweizer Kanton Graubünden, dem Land der 1000 Täler, wo Kammwandern gar zum Kurhaus-Trek wird? Die Fotografin Iris Kürschner nimmt euch mit auf eine Reise voller Gipfel, Täler und Genüsse.

Graubünden: Ein Paradies für Gratwanderungen

Ich bin gerne exponiert unterwegs, hoch droben und die Welt zu Füssen. Gipfelzacken bis zum Horizont. Der Blick verliert sich in der Unendlichkeit. Dort, wo nichts einzwängt, wo die Welt Freiheit atmet, fühl ich mich wohl. Umso schöner, wenn Kammrouten gleich mehrere Tage dauern. Beim Blick auf eine Alpenreliefkarte knautschen sich die Gebirgsfalten am stärksten in Graubünden zusammen, dem Land der tausend Täler, wie es gerne heißt. Der größte Kanton der Schweiz trägt die meisten Täler und die geringste Bevölkerungsdichte. Die Gipfel scheint noch niemand gezählt zu haben. Wo viele Täler, auch wie Kämme, dachte ich mir, und zog mit meinem Partner Dieter los nach Davos im Herzen der Furchen. Nicht nur mit dem Zug wunderbar erreichbar, man kann sich auch gleich im Anschluss per Seilbahn in die Höhe hieven lassen. Oben geht’s von der Couchzone in die Knautschzone kommt einem unwillkürlich in den Sinn angesichts des Panoramas, das wie ein mächtig zerknülltes Zeitungspapier zu Füssen liegt. Traumhaft schön die Gipfelwogen eines Gebirgsmeeres. Doch eher alptraumhaft der Nahblick. Das Weissfluhjoch gleicht einer Baustelle. Aber vielleicht muss man erst das Übel bewusst bemerken, um das Schöne wertzuschätzen. So wie hier der Kontrast zwischen einem destruktiven und einem sanft erschlossenen Skigebiet, zwischen Parsenn und Schatzalp, zwischen Fast und Slow Mountain hoch über Davos.

Die Bergkämme eröffnen immer wieder wunderbare Ausblicke - wie hier am Strelapass. Bild: Iris Kürschner

Die Kammrouten von Davos bis Bergün

Wir sehen die Gipfel des Appenzells mit Säntis und Altmann im Nordosten, die Glarner Alpen mit dem Tödi im Nordwesten, gefolgt von den Berner Alpen mit dem Finsteraarhorn, im Süden die Eisbastion des Berninamassivs. Ganz in der Nähe sticht ein Berg ins Auge, der dem Matterhorn unverschämt ähnlichsieht. Deshalb wird das Tinzenhorn gerne auch als das Matterhorn von Davos bezeichnet. In seine Richtung wandern wollen Dieter und ich, von Davos bis Bergün, von Kamm zu Kamm, eine geniale 4-Tagestour durch eine enorme Vielfalt.

Die faszinierende Geologie der Graubündner Berge

Allein schon die Gesteinsschichten und -arten, die die Berge bunt erscheinen lassen. Ihr Mosaik aus Farben und Formen fasziniert. Die Kollision der Kontinentalplatten während der Alpenfaltung hat fast zwei Dutzend verschiedene Gesteinsdecken übereinander geschoben, verfaltet, umkristallisiert. Einen ersten Eindruck davon, demonstriert uns das Strelahorn. Klasse Gratroute hatte uns im letzten Jahr Klaus Schuster verraten. Der Wirt der Berghütte am Strelapass erlaubt sich die Tour auf den Berg vor seiner Nase gelegentlich. Anspruchsvolles und genau das richtige Terrain sei das für seinen Falco und meint damit einen Mischlingshund mit ungebremster Energie. Schon das Schild beim Hauseingang „Hund und Herrchen bitte nicht füttern“ verrät ein humorvolles Gemüt.

Magische Stimmungen an der Berghütte am Strelapass. Bild: Iris Kürschner

Ein Walser am Zauberberg

Den plattgewalzten Pisten am Weissfluhjoch schnell den Rücken gekehrt, kann sich das Auge am nahen Strelapass wieder von Herzen freuen. Westlich blickt man in das unberührte Fondei. Dank der Initiative seiner Einwohner konnte eine Ausbreitung des Davoser Skigebiets verhindert werden und das verträumte Hochtal gibt sich Bergbahnen und Rummel frei. Einst von Walsern besiedelt, erkennt man schon aus der Ferne die typischen archaischen Siedlungen, die sich über das offene Weideland verstreuen. “Auch ich bin ein Walser“, betont Klausi nicht ohne Stolz. Hemdsärmelig steht er draußen auf der Terrasse seiner Berghütte am Strelapass – selbst bei bissiger Kälte, wo andere schon längst ihre Daunenjacken übergezogen haben. Kein zimperlicher Bursche, unkompliziert, offen und direkt – ein Mensch der Berge eben. Aus dem Kleinen Walsertal käme er und schmeißt Witze. Damit sorgt der Gastwirt aus Österreich schnell für Wohlfühlatmosphäre. Ebenso seine Küche. Alles wird selbst gemacht von der Bündner Gerstensuppe bis zum Teig für den knusprigen Flammenkuchen. Erfinderisch muss man hier, weit abgelegen, außerdem sein. So schmeckt Klausis Kuchen immer frisch, weil er ihn im Glas bäckt. „Noch heiß Deckel drauf, das ist wie einwecken“, verrät er, „und hält ewig“. 

Slow Mountain: zwischen Schatzalp und Strelapass

Einst ging am Strelapass eine Seilbahn durch, doch die wurde abgebaut. „Jetzt müssen zwar alle mindestens eine Stunde zu mir wandern, doch ich habe viel zufriedenere Gäste“, schmunzelt der Hüne mit den Kuhfellklogs. Rinder grasen friedlich rund um die schmucke Berghütte und pflegen damit nicht nur eine harmonische Kulturlandschaft, sondern erhöhen auch die Artenvielfalt. Dass das Gelände im Winter als Skigebiet genutzt wird, bemerkt man kaum. So wie das früher mit allen Skigebieten war. Skigebiet Slow Mountain heißt es nun zwischen Schatzalp und Strelapass mit zwei Retro-Skiliften. Passend zur Nostalgie des ehemaligen Tuberkulose-Sanatoriums, dass Thomas Mann in seinem „Zauberberg“ literarisch in die Weltgeschichte katapultierte

Von der Moderne zur Tradition: Das Sertigtal und das Walserhuus

Anderntags nehmen wir uns die Gratroute vom Jakobshorn über das Jatzhorn ins Sertigtal vor. Schnell ist man mit der Schatzalp-Bahn in Davos und per Bergbahn auf dem Jakobshorn. Jede Menge Mountainbiker haben meist das Gleiche vor. Doch man kann ihnen kurz nach der Bergstation ausweichen auf einen schmalen Kammpfad, der Stille und pures Panoramaglück schenkt. Wie ein Bindfaden fädelt er sich zwischen Dischma- und Sertigtal zur Tällifurgga, wo man auf den „Walserweg“ trifft. Anstatt von dort abzusteigen, hängen wir noch das Tällihorn dran. Jäh fällt der Blick ins Sertig. Verwunschen liegt das Bilderbuchdörfli im giftgrünen Talboden vor der mächtigen Gebirgskulisse des Hoch Ducan. Wie aus der Zeit gefallen wirkt das Sertig-Dörfli. Alte vergilbte Schwarzweissfotos, die im Walserhuus hängen, bestätigen, dass sich nichts verändert hat. Nur das Walserhuus selbst. Ein Bild zeigt es als Kurhaus. Die staubfreie, glasklare Bergluft und das gesunde Höhenklima hatte Anfang des 20. Jahrhunderts Lungenkranke zur Kur nach Davos gezogen. Unzählige Sanatorien entstanden, die in den 1940er Jahren mit der Entwicklung neuer Medikamente überflüssig und im Laufe der Zeit zu Hotels umfunktioniert wurden. Dazu gehört neben Schatzalp und Walserhuus auch das Hotel Ducan in Monstein, stellen wir am Ende fest.

Der Kurhaus-Trek überzeugt auch durch die kulinarischen Angebote. Bild: Iris Kürschner

Eine kulinarische Entdeckungsreise auf dem Kurhaus-Trek

Damit entpuppt sich unsere Kammroute tatsächlich als Kurhaus-Trek. Der sich, wie wir finden, zugleich auch noch als Gourmet-Trek outet. Durch die Bank wird der Gaumen verwöhnt. Im Walserhuus mit köstlichen Wildgerichte wie Hirschcarpaccio oder Bündner Spezialitäten wie Chrutchräpfli. Sie ähneln gefüllten Ravioli, werden in Nussbutter und mit Sertiger Alpengourmet-Chäs serviert. Wer die deftigen Klassiker Maluns, Capuns und Gerstensuppe einfach nur kosten möchte, bestellt sich eine Triologie in verkraftbarer Größe. So können noch die feinen Desserts Platz finden. Zur Verdauung ein Arvenlikör?

An der Route über den Rinerhorngrat und das Marchhüreli am nächsten Tag läge die Hubelhütte, erfahren wir. Dort schalte und walte ein Südtiroler mit äußerst leckerer Küche. Na, dann wäre der Pausenstopp also klar. Von dort vier Panoramastunden später erreicht man Monstein. Noch so ein pittoresker Ort, wo man gerne länger bleiben wollte. Zumal der coolste Dorftreffpunkt schlechthin.

Von Häusträffel, Mungga und Wätterguoge

Dafür sorgt Sebastian Degen, ein Braumeister, wie man ihn sich vorstellt. Voller Leidenschaft. Und es wundert gar nicht, dass er aus Bayern stammt. Basti, wie ihn alle nennen, kümmert sich seit Jahren um die Monsteiner Brauerei und rief den „Abend der offenen Tür“ ins Leben. Jeweils freitags trifft man sich am seit Corona-Zeiten eingeführten Bierbrunnen, Einheimische wie Feriengäste, und prostet sich zu mit Bierspezialitäten, deren lustige Namen schon zum Lachen bringen, wie Häusträffel (das Graubündner Wort für Grashüpfer), Mungga (= Murmeltier) oder Wätterguoge (= Alpensalamander) Weizen. An der Herberge daneben, dem Hotel Ducan, steht denn auch „last beerstop before heaven!“ Zum Monsteiner Bier passen die Leckereien von Gastwirt Benni Schibli. Selbst ganze Gerichte werden mit dem Hopfensaft kreiert wie Salate an hausgemachtem Bierdressing, Wätterguoge-Biergulasch vom heimischen Rind mit Thymian-Speck Bohnen und Paprika-Spätzli. Und zum Dessert vielleicht eine gebrannte Malzcreme? Wie gut, dass die nächste Gratroute als bester Kalorienbrenner fungiert.

Braumeister Sebastian Degen stößt mit Dieter Haas an am Bierbrunnen. Bild: Iris Kürschner

Der Büelenhorn und der Stulsergrat: Ein Abenteuer zum Abschluss

Der Weg über Büelenhorn und Stulsergrat bis nach Bergün frisst ordentlich Höhenmeter und Stunden. Doch was für ein Kurzweil. Da keine Seilbahn in der Nähe liegt, gibt es in der Regel nur wenige Mitwanderer. Dabei landschaftlich so viel Abwechslung, dass man früh starten sollte, um nicht in Zeitdruck zu geraten. Wie mächtig nun das Tinzenhorn vom Stulsergrat aus wirkt. Stolzen Hauptes bäumt es sich über dem Albulatal, als würde es sagen wollen: ich bin freier als mein überlaufener Kollege im Wallis – der Unterschied zwischen Fast und Slow Mountain eben. Selbstredend, dass ich einmal das Tinzenhorn besteigen werde.

Der aussichtsreiche Kammverlauf des Stulsergrats. Bild: Iris Kürschner

Graubünden für Gratgänger – Infos zu Anreise und lohnenden Routen

Anreise

Ideal mit ÖV. Zuganreise durch traumhaft schöne Landschaft bis Davos und von Bergün zurück (www.sbb.ch). Am Bahnhof von Bergün lohnt sich im Übrigen ein Besuch des Bahnmuseums (www.bahnmuseum-albula.ch).

Information

Davos Tourismus, Tel. +41 (0)81 415 21 21, www.davos.ch

Bergün Filisur Tourismus, Tel.: +41 (0)81 407 11 52, www.berguen-filisur.ch

Literatur

Gratwandern Südschweiz, Iris Kürschner und Bernd Jung, Bergverlag Rother, erscheint im Frühling 2024.

Strela (2636 m)

Gehzeit: 2.30 Std.

Höhenunterschied: 300 Hm.

Anforderungen: T3+. Exponiert im Gipfelbereich, wo man hie und da auch die Hände zu Hilfe nehmen muss. Die Verlängerung (2 Std.) über die Chüpfenflue (2682 m) etwas anspruchsvoller, wenn man die Gratfelsen umgeht T4, ansonsten T5.

Ausgangs- und Endpunkt: Strelapass, 2350 m. Zustieg von der Bergstation Schatzalp (1.30 Std.) oder von der Parsenn- Mittelstation über den sehr schönen Panoramaweg (1 Std.) oder von der Bergstation  Weissfluhjoch (0.45 Std.).

Unterkünfte: Berghütte Strelapass, Tel. 081 415 52 67, www.strelapass.ch

Hotel Schatzalp, Tel. 081 415 51 51, www.schatzalp.ch

Karte: Swisstopo 1:50.000, Blatt 248T Prättigau.

Jakobshorn – Tällifurgga – Sertigtal/ Walserhuus

Gehzeit: 3.30 Std. (mit Abstecher Tällihorn 0.45 Std. zusätzlich)

Höhenunterschied: 120 Hm im Aufstieg, 840 Hm im Abstieg

Anforderungen: T3, am Jatzhorn etwas exponiert. Wenn der Kamm umgangen wird auf dem Höhenweg dann T2.

Ausgangspunkt: Bergstation Jakobshorn (2590 m). Zufahrt von Davos-Platz.

Endpunkt/Unterkunft: Hotel Walserhuus im Sertigtal, Tel. 081 410 60 30, www.walserhuus.ch

Karte: Swisstopo 1:50.000, Blatt 248T Prättigau sowie Blatt 258T Bergün.

Rinerhorngrat und Marchhüreli (2578 m)

Gehzeit: 6 Std.

Höhenunterschied: 740 Hm im Aufstieg, 980 Hm im Abstieg.

Anforderungen: T2, gemütliche Grattour auf schmalem Pfad mit nur einer exponierten Stelle am Marchhüreli, die auch umgangen werden kann. Auf dem ersten und dem letzten Drittel muss die Route mit Mountainbikern geteilt werden, deshalb am besten Wochenenden meiden.

Ausgangspunkt: Walserhuus im Sertigtal.

Endpunkt/Unterkunft: Hotel Ducan in Monstein (1626 m).

Karte: Swisstopo 1:50.000, Blatt 258T Bergün.

Büelenhorn (2807 m) und Stulsergrat

Gehzeit: 8.30 Std.

Höhenunterschied: 1200 Hm im Aufstieg, 1500 Hm im Abstieg.

Anforderungen: T3, ein paar exponierte Partien.

Ausgangspunkt: Monstein (1626 m).

Endpunkt: Bergün (1373 m).

Karte: Swisstopo 1:50.000, Blatt 258T Bergün.